Für eine moderne Fussballfankultur

von Sensiego

Als oftmals elitärer Kreis geben heutzutage in vielen Schweizer Stadien Ultras den Ton an. Bestimmen über den Diskurs der Fanszene und propagieren mit Slogans wie «Gegen den modernen Fussball» oder «Fussballfans sind keine Verbrecher» eine sehr einseitige Sichtweise auf das Fan-Dasein. Selbstreflektion und Kritik findet scheinbar kaum statt. Ein Versuch einer differenzierten Wahrnehmung und Auseinandersetzung.

Verklärung der Vergangenheit

Ein verbindendes Element der meisten Ultra-Gruppen ist der Kampf gegen den «modernen Fussball». Damit gemeint ist die sogenannte «Kommerzialisierung» des Fussballs. Also dass der Fussball und das Drumherum immer mehr und immer stärker der marktwirtschaftlichen Logik unterworfen wird. Damit einhergehend wird oft ein romantisches Bild der Vergangenheit gezeichnet, in dem einfach alles besser, schöner und echter war. Dies obwohl viele die Zeit nur noch vom Hören-Sagen oder aus Youtube-Dokumentationen zu kennen scheinen. Zeiten in denen nur «Traditionsklubs» um die Meisterschaft gespielt haben, als noch die sportliche Fähigkeit und nicht das Geld entschied, als Fussball noch Fussball und kein Event war. Ja, es mag sein dass früher noch vieles einfacher und simpler war. Aber einiges wird gerne auch zurecht gebogen.

In der Schweiz sprechen ja heute noch viele nostalgische Fussballfans von der Nationalliga A und B, wenn sie die Super- oder Challenge League meinen. Die neuen Namen stehen sinnbildlich für den «Kommerz» der auch in der hiesigen Liga Einzug gefunden habe. Dass die Nati A, aber als Serie A gestartet hat und die Nati B auch mal die Serie Promotion, 2. Liga oder 1. Liga geheissen hat, wird zum Beispiel gerne ignoriert. Auch die Veränderung der Liga-Struktur, zum Beispiel mit der Abschaffung des «Strichs» ist dann sofort ein Verrat an der Tradition. Einer Tradition, welche es so aber gar nie gegeben hat, da sich auch der Ligenaufbau stetig gewandelt hat.

Veränderungen sind generell unerwünscht. Alles soll bleiben wie es einmal war oder scheinbar war. Die Champions League soll wieder zum Europapokal der Landesmeister werden, der Cupfinal darf nur im Wankdorf ausgetragen werden und Fussballvereine müssen schon vor 100 Jahren gegründet worden sein und mit mit ihrem ursprünglichsten Vereinslogo auftreten, um eine Berechtigung in den höchsten Ligen zu haben. Man darf und soll natürlich Veränderungen stets kritisch beobachten, doch gehören sie nunmal zum Leben und auch zum Fussball. Heute diskutiert man über den Einsatz von Torlinientechnik und vor 50 Jahren über die Anzahl an Auswechslungen. Anstatt sich auf Altes zu berufen, sollte man lieber selbst versuchen, die Zukunft aktiv mitzugestalten und Verbänden und Konzernen nicht die ganze Spielwiese überlassen.

Ein gern gesehenes Ziel sind für viele angeblich künstlich geschaffene und gewachsenen Vereine wie RB Salzburg, TSG Hoffenheim und so weiter. Diese Vereine stehen sinnbildlich für die ganze Kommerzialisierung des Sports. Es ginge gar nicht mehr um Fussball sondern nur um Profit. Natürlich ist dem so, aber das ist auch bei «Traditionsvereinen» im nationalen- und internationalen Wettbewerb nicht anders und das auch nicht erst seit gestern. Als 1973 Eintracht Braunschweig als zweites Team mit einem Trikotsponsor auflaufen wollte, untersagte das der DFB. Die Braunschweiger machten den Jägermeister-Hirsch also kurzerhand zu ihrem Logo um das Verbot zu umgehen. Als weiterer Traditionsverein verkaufte der HSV als erster Verein in der Bundesliga das Namensrecht des Stadions. Borussia Dortmund war die erste Deutsche Mannschaft die an die Börse ging. Dies alles zeigt auf, dass Teams immer wieder versucht haben, wirtschaftlich neue Wege zu gehen. Was zum Beispiel Red Bull nun macht, ist wohl eine eine sehr konsequente Art dieses Weges. Das ist bestimmt nicht schön, aber hey, das ist halt Kapitalismus.

Da sich die Ultras und aktiven Fans über so vieles zu empören wissen, erstaunt es mich doch immer wieder, dass sie trotzdem hingehen. Ich meine, man weiss doch einfach dass Profivereine der kapitalistischen Logik unterstellt sind und dass dies auch viele (unschöne) Erscheinungen mit sich bringt. Und wenn man keinen Bock auf dieses ganze Drumherum, auf das Spektakel und die absolute Gewinnmaximierung hat, dann kann man doch einfach den nächsten Dorfverein besuchen, wo noch «echter, authentischer Fussball» gespielt wird. Wieso geht man zu YB, wenn man auch den FC Breitenrain hat, wieso besucht man den Sankt-Jakob-Park, wenn der Rankhof direkt vor der Türe liegt? Also entweder man lässt sich auf das Spiel ein oder man lässt es bleiben. Aber dann einzelne Akteure und nicht das grosse Ganze zu kritisieren, macht einfach keinen Sinn.

Die einzig wahren Fans gegen alle Anderen

Nehmen wir an dieser Stelle mal an, dass man einfach Bock auf «guten» Profifussball hat und sich auf diesen Rummel einlässt. Während in der «guten, alten Zeit», die von den «modernen» Ultras gerne hochgehalten wird, der Besuch eines Spiels vor allem ein vielseitiges Familienerlebnis war, wird dies heute aber kaum so von ihnen ausgelebt. Klar gab es immer schon auch «junge Raufbolde» oder vereinzelten Support. Aber der grosse Teil ging doch einfach hin, um Fussball zu Schauen, Freundinnen und Freunde zu treffen, Bierchen zu trinken und Würste zu essen. Das hört sich zumindest für mich nicht nach dem Stadionerlebnis an das viele Ultras anstreben.

Die Bewegung mit durchaus politischen Wurzeln fand dann doch auch irgendwann in den 90ern den Weg in die Schweiz. Und sicherlich mag so ein Ultra-Leben toll sein. Das Gruppengefühl, die Action, die Erlebnisse,  … Vor allem ist Ultra auch ein Abtrennungsmerkmal – Gegenüber den «normalen» Fans, den «Erfolgs-Fans» und vor allem gegenüber Fans von anderen Vereinen. Schliesslich ist nur die eigene Ultra-Gruppe diejenige, die den «richtigen» Verein unterstützt und alle anderen sind eh nur *Schimpfwort deiner Wahl*. Ja, das Konstrukt von «Wir gegen die Anderen» reicht weit länger zurück und lässt sich wohl auch nie komplett aufheben. Die Ausprägung und das Ausleben erfuhr durch die Ultras, aus meiner Wahrnehmung, ein neues Ausmass. Grundsätzlich wird oftmals pauschal dem Gegner abgesprochen, irgendwelche guten und tolle Fans zu haben und dies obwohl sich die anderen Ultras ja meist über das Gleiche definieren: Leidenschaft zum Fussball, Einsatz über die 90 Minuten hinaus, Autonomie und den Hang zu Pathos.

Dass anderen Gruppen abgesprochen wird dass auch sie gute Aktionen machen können oder auch einfach tolle Menschen sein können, mit denen ein Bier getrunken werden kann, dient normalerweise der eigenen Stärkung. Denn das Problem ist ja, dass es rein rational kaum Unterschiede zwischen Fans und Ultras aus Basel, St. Gallen oder Genf gibt. Natürlich sind die einzelnen Gruppen grösser oder kleiner, lauter oder leiser, kreativer oder langweiliger, aber an sich sind sie absolut austauschbar. Praktisch jede Gruppe beschränkt ihre Identifikation über die Stadt oder Region, in welcher der Verein zu Hause ist. Dies genügt dann auch vielen schon, um sich besser und überlegner als Fans, die in einer anderen Stadt aufgewachsen sind, zu fühlen. Aber wo sind sonst Unterschiede? Optisch sehen die Kurven alle gleich aus, das Auftreten ist praktisch überall gleich martialisch, die Fan-Lieder oft nicht interessanter als Songs am Eurovision Song Contest und dazu kommen auch noch die Stadion, die inzwischen ebenfalls alle gleich sind.

Aus dem Drang nach Individualität ist ein neuer Mainstream geworden. Die «Globalisierung» der Kurve – unter anderem auch durch Internet, Videos, Foren etc. – hat alles zu einem Einheitsbrei gemacht, genau so wie auch bei vielen europäischen Stadtzentren. Codes und Regeln definieren, wie eine Fankurve auszusehen, zu klingen und sich zu geben hat. Die Kleinen schauen bei den Grossen ab und alle reproduzieren, das immer gleiche Bild vom angeblich «rebellischen Fan». Aber irgendwann wird eine Pyrofackel auch nicht mehr sein als eine Pyrofackel und somit nur noch langweilig.

Öffentliche Partizipation statt exklusiver Kreis

Es erscheint mir logisch, dass sich Ultras & Co. von anderen abgrenzen wollen. Von Fans anderer Vereine, aber auch von Fans innerhalb des Vereins oder der restlichen Umwelt. Ultra als kleiner eigener Kosmos. Innerhalb dieses Kosmos spielt sich dann das Leben ab. Aus diesem Kreis heraus wird dann oft und gerne all das Böse da draussen kritisiert. Wobei «Kritik» schon etwas zu viel gesagt ist, häufig wird ja nur gepöbelt oder gejammert. Egal ob es um Anspielzeiten, Eintrittspreise, Repression oder was auch immer geht. Ausgereifte Texte, Positionen, Gedanken und Ideen verlassen selten den Ultra-Kosmos, falls es denn überhaupt welche gibt.

Es erstaunt überhaupt nicht, dass die meisten Gruppen keine Lust haben, sich gegenüber bürgerlichen Zeitungen, lokalen Anzeigern oder Boulevard-Magazinen zu öffnen, da dort schon genug oft Unsinn über Fussball und das Fussball-Fan-Dasein geschrieben wurde. Aber trotzdem sollte man doch als Ultra das Verlangen haben, sich in der Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. Und dies gelingt halt nur sehr selten mit einem schön gemalten Doppelhalter oder einem «Scheiss SFL»-Gesang. Wieso haben die vielen Gruppen kaum das Bedürfnis sich nach aussen zu artikulieren? Das versteh ich einfach nicht, da es ja wirklich genug Themen gäbe, welchen Positionen aus Fansicht einfach nur gut täten.

Im Jahr 2017 ist es ja ziemlich einfach, sich selber medial Gehör zu verschaffen. Aber auch im Internet sucht man vergeblich nach Auseinandersetzungen von Fanthemen aus Ultra- oder Fan-Sicht. Relativ viele Gruppen haben zwar eine Internetpräsenz in Form von einer Website und weniger oft auch in Form von einer Facebook-Seite, aber genutzt wird diese in der Regel nur zur Selbstdarstellung, also für Fotos, Videos und eventuell noch Infos zur nächsten Auswärtsfahrt. Das wars dann auch. So viel zum Thema Anders- und Vielartigkeit von Fankulturen. Vielleicht finden die nötigen Diskussionen nur an internen Anlässen, in Kurvenfanzines oder im Bus während einer Auswärtsfahrt statt und es ist sicherlich auch gut, dass diese dort geführt werden, aber manche Themen sollten auch nach aussen getragen werden.

Aber wahrscheinlich will man das ja nicht. Wahrscheinlich will man gar kein Verständnis für die Fan-Perspektive in der Öffentlichkeit. Wahrscheinlich mag man es auch einfach, den nichtverstandenen, rebellischen Fussballfan sein, der sich alleine gegen das Böse des Fussballs aufopfert – und doch schon längst von ihm aufgefressen wurde.

Politischer Wolf im unpolitischen Schafspelz

Ein weiteres Problem ist die «unpolitische» Positionierung der Fankurven. Denn ein weiteres Label, was zumindest die Schweizer Ultra-Gruppen vereint, ist der Konsens, dass Politik angeblich nichts mit Fussball zu tun habe und somit definieren sich praktisch alle aktiven Fangruppen als «unpolitisch». Und obwohl dieser Widerspruch offensichtlich ist, bleibt er doch ein zentraler Bestandteil. Nur schon wenn man das Entstehen der Ultra-Kultur anschaut, ist die politische Ausrichtung offen und es beschäftigte auch, was nach wie vor von vielen Ultra-Gruppen thematisiert wird:

Repression von Seiten Polizei, Verband und Staat, den kommerziellen Auswüchsen im Fussballalltag, das Ausleben des Fan-Daseins mit selbstbestimmten Auswärtsfahrten und Stilmittel, für einen bezahlbaren Stadionbesuch, für fanfreundliche Anstosszeiten und so weiter. Sich zu diesen Fanthemen und somit wohl aus ihrer Sicht unpolitischen Themen zu positionieren gehört zum guten Ton bei vielen Ultras. Dass dann aber auch Themen wie Stadt(teil)entwicklung, Diskriminierung, Globalisierung, Kapitalismus, Feminismus etc. genau so eine wichtige Rolle spielen wird verkannt. Aber solche Auseinandersetzungen würden halt auch Selbstreflektion und -kritik verlangen und das momentan «herrschende» Ultrabild würde mächtig ins wanken kommen.

So definiert man sich doch lieber über den Fussball, die Stadt und das Rebellentum. Eine Selbstregulierung der Kurve wird aber so auch nie möglich sein, da sich in diesem Zusammenschluss immer eine zu heterogene Masse findet, als dass man sich klar positionieren könnte und um sich so dann auch gegen unschöne Auswüchse zur Wehr setzen zu können. Genau so dient die «Vielseitigkeit» der Kurve als Legitimation und Schutzschild bei diskriminierenden Verfehlungen. Wieso sollte man auch rassistisch sein, man habe ja selber Migrantinnen und Migranten in der Kurve. Und da man sich als unpolitisch positioniert, ist es anscheinend auch möglich, Sankt-Gallen-Fans als Juden zu beschimpfen ohne antisemitisch zu sein. Wunderbare Ultra-Welt, wir machen sie uns, wie sie uns gefällt.

Kein Schritt zurück – Stetig fragend voran!

Erschien im Teilzeitzine #2, August 2017